27 May 2015

Ehe für alle: Warum Mehrheitsentscheid auch bei Minderheitsrechten nichts Schlechtes sein muss

Die große Mehrheit der Iren hat bekanntlich letzte Woche dafür gestimmt, das verfassungsmäßige Recht zu heiraten für alle Geschlechterkonstellationen zu öffnen. Außerhalb des Vatikanstaats und der FAZ-Politikredaktion sind eigentlich alle sehr glücklich darüber, und selbst denen, die es nicht sind, fällt zur Begründung meist nicht mehr ein als ihr Bauchgefühl, was ja im Grunde äquivalent ist zu dem verschämten Eingeständnis, dass es nichts Vernünftiges dagegen einzuwenden gibt. Damit könnte man es eigentlich gut sein lassen und sich getrost dem Leeren weiterer Champagnerflaschen widmen.

Vielleicht ist das jetzt nur etwas für Verfassungsnerds, aber ein gewisser Irritationspunkt bleibt noch. Nicht diskriminiert zu werden ist ein Minderheitenrecht. Es schützt die Nicht-Mehrheit vor dem politischen Willen der Mehrheit. Ein solches Recht nun in einem Referendum zur Abstimmung zu stellen und damit just dem Willen der Mehrheit zu unterwerfen, vor dem es Schutz bieten soll – ist das nicht widersprüchlich, wenn nicht gar gefährlich? Sind Rechte tatsächlich etwas, dessen Existenz man ermitteln kann, indem man fragt, wer dafür ist und wer dagegen, und dann die Stimmen auszählt? Angenommen, das No-Lager hätte gewonnen – hätte das mit der gleichen Autorität geheißen, dass gleichgeschlechtliche Paare keinen Anspruch besitzen, heiraten zu dürfen wie jedes andere Paar auch? Wie will, wer jetzt triumphiert, noch protestieren, wenn irgendwo eine weniger liebenswürdige Constituency als die Iren den umgekehrten Weg geht und per Referendum ein verfassungsrechtliches Verbot der Homo-Ehe durchsetzt?

Leonid Sirota (dessen Blog Double Aspect für alle, die sich für kanadisches Verfassungsrecht interessieren, übrigens ein heißer Tipp ist) hält diesem Argument entgegen, dass es ganz normal ist, per politischem Mehrheitsentscheid die Reichweite von Rechten zu beeinflussen oder zu bestimmen, und dass die Alternative, diese Entscheidung den Gerichten zu überlassen, in Wahrheit gar keine ist.

Auch mir scheint diese Irritation auf einem Missverständnis zu beruhen, aber ich würde hier anders argumentieren. Mir scheint, dass es darauf ankommt, ob die Mehrheit der Minderheit ein Grundrecht gewährt oder wegnimmt, und dass man zwischen beidem durchaus auf tragfähige Weise unterscheiden kann. In einen Fall hat man es mit einem Akt der Selbstbindung zu tun. Die Mehrheit bindet sich, von bestimmten Möglichkeiten, die Minderheit zu unterdrücken, keinen Gebrauch zu machen, und beugt sich darin gerichtlicher Kontrolle. Bindung, um Freiheit zu gewinnen: so entsteht Verfassungsrecht immer, wenn man nicht gerade glaubt, dass es auf Marmortafeln vom Himmel heruntergereicht oder der Natur inhärent ist oder so etwas. Die Mehrheit der Iren will sich selbst kraft Verfassungsrecht verbieten, gleichgeschlechtliche Paare bei der Eheschließung zu diskriminieren, und daran wird sie sich zu halten haben, auch wenn es ihr späterhin aus irgendwelchen Gründen nicht mehr opportun erscheinen sollte.

Im anderen Fall haben wir es mit dem Gegenteil zu tun: Sollte die irische Mehrheit es sich tatsächlich anders überlegen und per Referendum die Ehe für alle wieder abschaffen oder gar verbieten, dann wäre dies kein Vorgang der Selbstbindung, sondern der Selbstermächtigung. Die Mehrheit würde ihre politischen Handlungsspielräume vergrößern, und zwar auf Kosten der Minderheit.

Es ist überhaupt kein Widerspruch, der im einen Fall der Mehrheit zu applaudieren und sie im anderen Fall scharf zu kritisieren. Das wäre mitnichten opportunistisch, sondern vollkommen folgerichtig. Zwar schreibt die Mehrheit formell in beiden Fällen die Verfassung um, aber im einen Fall schafft sie ein Mehr, im anderen ein Weniger an verfassungsrechtlicher Bindung. Und darauf kommt es an und nicht, ob in einem demokratischen oder einem justiziellen Verfahren definiert wird, wie weit das Recht reicht.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Ehe für alle: Warum Mehrheitsentscheid auch bei Minderheitsrechten nichts Schlechtes sein muss, VerfBlog, 2015/5/27, https://verfassungsblog.de/ehe-fuer-alle-warum-mehrheitsentscheid-auch-bei-minderheitsrechten-nichts-schlechtes-sein-muss/, DOI: 10.17176/20170724-173807.

3 Comments

  1. Peter Camenzind Wed 27 May 2015 at 20:56 - Reply

    Bei einer Abstimmung zu Gunsten der Öffnung der Ehe für Homosexuelle könnte eine Mehreit nicht nur quasi sich selbst beschränkend über die Rechte von Homosexuellen entscheiden.
    Es könnte zugleich, entsprechend dem Artikel, eine Mehrheit “quasi sich selbst ermächtigend” beschränkend über die danach eine Minderheit bildendenden Anhänger und Nutznießer eines herkömmlicher Ehe- und Familienverständnisses und Gegner einer solchen Öffnung entscheiden. Bei sich eventuell folgerichtig fortentwickelnder Auflösung eines herkömmlichen Eheverständnisses könnten nämlich darin begründete Rechte beschnitten werden und verloren gehen.
    Das zeigt, dass die Frage der Öffnung der Ehe für Homosexuellen eine Grundrechtskollisionproblematik enthalten könnte.
    Eine solche soll nach üblicher Sichtweise nicht zu einer vollkomenen einseitigen Durchsetzung einer Rechtsposition auf Kosten der anderen führen können, sondern nur durch vermittelnden Ausgleich zwischen den kollidierenden Positionen aufzulösen sein.
    Eine solche vermittelnde Auflösung einer Grundrechtskolision könnte hier danach einer völligen rechtlichen Gleichstellung von Homosexuellen bezüglich einer Ehe- und Familiengründung entgegenstehen.

  2. Chris Thu 28 May 2015 at 10:00 - Reply

    Die Argumentation, die Öffnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare löse eine Grundrechtskollision aus, liest sich ja eventuell auf den ersten Blick ganz gut, scheitert aber spätesten beim zweiten Blick an zwei Punkten:

    1) Welches Grundrecht soll denn nun bitte verletzt werden, wenn die “darin begründete[n] Rechte” verloren gehen? Ich sehe kein Grundrecht, das einen Bestandsschutz für bestehende Rechte gewährt.

    2) Es liegt schlicht keine Kollision vor: “Bei sich eventuell folgerichtig fortentwickelnder Auflösung eines herkömmlichen Eheverständnisses könnten nämlich darin begründete Rechte beschnitten werden und verloren gehen.” Wenn ich jetzt nicht alles vergessen habe, was man mir im Studium zu Grundrechten vermittelt hat, reicht ein “könnte” eben nicht. Für eine Grundrechtskollision müssen zwei Grundrechte auch ganz praktisch kollidieren – das tun sie aber hier nicht, denn (von der Frage, ob das überhaupt ein Grundrecht verletzt, ganz abgesehen) ändert sich durch die Öffnung der Ehe für bereits verheiratete Heteros ja nichts. Es mag allenfalls eine wie auch immer geartete Grundrechtsverletzung zwar grundsätzlich möglich sein – aber möglich ist dies ja bei jeder Grundrechteausübung -, sie liegt aber eben nicht gegenwärtig vor.

    Es gibt also keine Grundrechtekollision, die man irgendwie auflösen müsste.

  3. Peter Camenzind Thu 28 May 2015 at 15:04 - Reply

    Betroffen könnte auf Seiten eines herkömmlichen Ehe- und Familienverständnisses etwa das Grundrecht auf Ehe und Familie aus Art. 6 I GG sein.
    Dies soll zwar evtl. weniger konkrete bürgerliche Ehe- und Familierechte schützen.
    Wenn sich das herkömmliche Ehe-und Familienbild verändern sollte, könnte dieses Grundrecht allerdings eben schon “berührt / betroffen” sein. Dies sogar iSe “widerstreitender Betroffenheit”, bzw. iSe “Konfliktes”, wenn dies zu Lasten von Vorteilen auf der Grundlage eines herkömmlichen Verständnisses geschehen könnte.
    Für einen Widerstreit von Grundrechtspositionen könnte dabei schon eine hinreichende “Bechwer” durch eine nicht völlig unwahrscheinlich fernliegende, aus der Luft gegriffene Gefahr für eine widerstreitende Grunsdrechtsposition ausreichen.
    In einem anderen Artikel hier im Verfassungsblog, hieß es, Befürworter eines herkömmlichen Ehe-und Familienverständnisses verlören durch Öffnung der Ehe Pfründe. Das klingt anders als die Laier, dass hierdurch niemand etwas verlöre.
    Es könnten etwa vorteilhafte Positionen wie Rechte auf der Grundlage eines herkömmlichen Ehe- und Familienverständnisses verlust zu gehen drohen, daher u.U. “Grundrechtkollision”.

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